Ich habe jetzt endlich den Antwortbrief von Lothar Binding auf meinen Netzsperren-Brief auf dessen Homepage gefunden (ich habe ihn auch persönlich geschickt bekommen, habe aber auf ein Nicht-Pdf-Dokument auf dessen Homepage (vergeblich) gehofft, damit ich besser zitieren kann). Ich weiß noch nicht so genau, was ich davon halten soll, nicht alles ist totaler Blödsinn. Binding beruft sich u.a. auf den "Kompromiss", den der Parteivorstand ausgehandelt hat und auf die scheinbare Entkräftung der Argumente der Gegner der Sperren.
Ärgerlich sind allerdings v.a. andere Äußerungen, in denen Binding seine Zustimmung zu dem Gesetz begründet, obwohl er selbst "viele Bedenken teilt" und ihm "die Zustimmung fachlich sehr schwer" (jeweils S.2) fällt. Seine Begründung lautet schlicht und einfach: Fraktionssolidarität.
Binding schreibt, ohne es weiter zu begründen, dass die Entscheidung über die Netzsperren "keine Gewissensfrage" (S.3) ist. Das finde ich etwas seltsam, da in Art. 38 I GG doch steht, dass die Abgeordneten nur ihrem Gewissen unterworfen sind. Binding stimmt also einem Gesetz zu, dass er mit seinem Gewissen nicht vereinbaren kann und beruft sich darauf, die Zustimmung des Gesetzes sei keine Gewissensfrage.
Weiter schreibt er dann, dass er in der Fraktionsabstimmung zur unterlegenen Minderheit gehört habe (jedenfalls kann man das dem Text entnehmen) und schließt daraus:
"Mit seiner eigenen Mehrheit in einer Abstimmung zu unterliegen, bedeutet daher nach meinem Verständnis, sich später der Mehrheit anzuschließen und deren Entscheidung zu respektieren."(S.4)
Auch das finde ich zumindest komisch, Binding hat also in der Fraktion gegen das Gesetz gestimmt (kann man das irgendwo nachprüfen, er bezieht sich jedenfalls nicht konkret auf die Netzsperren) und stimmt in der Abstimmung im Plenum für das Gesetz, weil er sich der Mehrheit anschließt. Dies begründet er so:
"Andernfalls würde ich mit der Opposition stimmen, also eine Gruppe stärken, deren Vorschläge meistens noch weiter von meinen Vorstellungen entfernt sind als die der Mehrheitsmeinung in der eigenen Fraktion"(S.5)
Ich versuche den Satz zu verstehen: Binding ist gegen das Gesetz, die Mehrheitsmeinung der Fraktion ist für das Gesetz, die Opposition ist gegen das Gesetz. Was liegt also näher, als mit der eigenen Fraktion zu stimmen. Das "nein" der Opposition ist weiter entfernt von Bindings "nein" als das "ja" der SPD-Fraktion. Kann mir das jemand erklären?
So geht es weiter:
"Abgesehen davon ist auch ein Restzweifel über die eigenen Erkenntnisse und Meinungen erlaubt. Es könnte ja auch sein, dass die Mehrheit meiner Fraktion das Richtige denkt und ich das Falsche."(S.5)
Diese Begründung finde ich schwach.
Erstens erwarte ich von meinem Abgeordneten, dass er sich über ein Thema (besonders über ein so wichtiges), über das er abstimmt, insoweit informiert, dass er eine für eine Abstimmung nötige Fachkompetenz mitbringt, die Binding ja vorgibt zu haben (S.1).
Zweitens ist das Argument einfach keines. Wenn ich nach eigener Ansicht gegen ein Gesetz bin, dann stimme ich doch nicht aus dem Grund mit der Mehrheit dafür, dass meine eigene Ansicht eventuell falsch sein könnte. Dann bräuchten wir doch gar keine Abgeordneten mehr...
Alles in allem finde ich die Argumentationsweise sehr, sehr (sehr) wacklig.
Ich muss sagen, dass ich die Handlungsweise in diesem Fall als bedenklich empfinde. Und ja, ich hätte mehr "Selbstbewusstsein"(S.2) erwartet. Wenn ein Abgeordneter fachliche Bedenken hat, warum gibt es von dann ihm keinen Widerstand gegen das Vorhaben? Fraktions"solidarität" hin oder her, es hat in der SPD einige Gegenstimmen gegeben und man kann doch nicht einfach die Basis (und ja auch den Online-Beirat) aufgrund von Fraktionstreue überhören.
Insgesamt bin ich von der SPD-Fraktion doch sehr enttäuscht. Man hat sich vor den Karren von Ursula von der Leyen spannen lassen und läuft jetzt Gefahr, eine ganze Generation zu verlieren, weil man einem Gesetz zugestimmt hat, von dessen Nicht-Wirksamkeit man teilweise selbst überzeugt war.
Nachtrag:
Ganz vergessen habe ich, auf den wunderbaren letzten Satz des Briefes hinzuweisen:
"Außerdem ist auch das web, trotz einmaliger Selbstkontrolle durch die Community und demokratischer Strukturen, kein rechtsfreier Raum."(S.5)
Dazu hatte ich bereits etwas geschrieben und mir ist es unbegreiflich, wie sämtliche Politiker diesen Unsinn immer wieder vor sich herplappern müssen. Eine Blödsinnsaussage wird auch durch unendlichfache Wiederholung immer eine Blödsinnsaussage bleiben.
So möchte ich auf einen sehr guten Telepolis-Artikel hinweisen, "Verglichen mit dem Netz ist das Leben ein rechtsfreier Raum", in dem Beispiele für eine Überreglementierung des Internets gemacht werden und der derzeitige Lieblingssatz der Politiker ad absurdum geführt wird.
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vor 18 Stunden